Neurose – ein aktuelles Thema. Kaum ein Verlag, der kein Buch über Neurosen im Angebot hat, und auch im Fernsehen gibt es dazu viele Sendungen. In Großstädten wie Berlin, München oder Stuttgart scheint die Hektik des Arbeitslebens neurotische Zustände zu fördern – wer kennt nicht Woody Allens „Stadtneurotiker“?

  • Aber was ist eine Neurose eigentlich?
  • Was unterscheidet sie von einer Psychose?
  • Welche Möglichkleiten zur Heilung gibt es?

Die Übergänge zwischen einer Lebenskrise, einer Neurose oder Psychose sind fließend. Aber wer erkennt, dass er allein nicht weiterkommt, hat bereits den ersten Schritt getan, um einen Ausweg zu finden.

Neurose: Ein Begriff aus dem Lexikon der Psychoanalyse
Neurose oder Psychose?
Ist die Psychose ein überholter Begriff?
Das Unterbewusstsein setzt Ursachen für Neurosen
Der Weg aus der Neurose

Neurose: Ein Begriff aus dem Lexikon der Psychoanalyse

Was ist eine Neurose? Was hilft bei einer Neurose als psychologischer Erkrankung?

Was ist eine Neurose? Was hilft bei einer Neurose als psychologischer Erkrankung?

Sigmund Freud benutzte den Begriff Neurose erstmals im Jahr 1895. Um die Dynamik der neurotischen Erkrankungen zu veranschaulichen, verwendete er ein Strukturmodell der Psyche – und auf diesem Modell basieren heute noch viele Konzepte der Psychotherapie. Der psychische Apparat setzt sich demnach aus drei Elementen zusammen: Über-Ich, Es und Ich. Das Über-Ich repräsentiert in diesem psychischen Modell das Gewissen, das von Normen und Werten bestimmt ist, die vom kulturellen Umfeld geprägt werden. Das Es hingegen steht für die natürlichen, animalisch-egoistischen Triebe. Das Ich (das eigentliche Selbstbewusstsein) ist der Mittler zwischen diesen Instanzen. Einer psychisch gesunden Person gelingt der Ausgleich zwischen den Ansprüchen des Es und des Über-Ichs. Sie handelt nicht nach dem ungelenkten Lustprinzip, sondern ihr gelingt eine gesunde Anpassung an die Wirklichkeit. Gleichzeitig findet sie Ventile für ein gesellschaftlich akzeptiertes Ausleben ihrer Triebe.

Psychische Erkrankungen (Psychosen oder Neurosen) mit all ihren negativen Symptomen treten nach diesem Modell auf, wenn es das Ich nicht schafft, einen Ausgleich zwischen Wirklichkeit und Innenwelt herzustellen. In der Folge kommt es zu Neurosen oder Psychosen (je nach dem Grad der verzerrten Eigenwahrnehmung oder Wahrnehmung der Wirklichkeit). Die Ursachen für psychische Störungen sind zumeist in den frühen Lebensjahren zu finden. Entscheidend ist häufig die Beziehung zu den Eltern. Wenn ein tyrannischer Vater oder eine hysterische Mutter die Kindheit prägen, reagiert der erwachsen gewordene Mensch in ähnlichen Situationen ebenso hilflos, wie er es als Kind gewesen ist: Die seelischen Belastungen sind so groß, dass er den Konflikt nicht lösen kann – er wird traurig oder bekommt Angst. Im schlimmsten Fall entwickelt sich diese Neurose zu einer Psychose.

Die Psychoanalyse begegnet neurotischen oder psychotischen Störungen dadurch, dass der zugrundeliegende Konflikt dem Betroffenen bewusst gemacht wird. Die Erfahrungen und Gefühle der Kindheit müssen aufgedeckt und erneut erlebt werden. In der Psychotherapie nach Freud werden die Ursachen für die neurotischen Symptome offengelegt, damit sie verarbeitet werden können. So werden neurotische Erkrankungen geheilt.

Neurose oder Psychose?

Der Unterschied zwischen einer Neurose und einer Psychose besteht darin, dass bei der Neurose der Bezug zur Wirklichkeit weitgehend intakt ist, während bei der Psychose die Realitätswahrnehmung nachhaltig gestört ist. Die Persönlichkeitsstörungen sind hier tiefgreifender, so dass der Blick auf die Welt wesentlich von der Persönlichkeitsstörung beeinflusst ist. Die Wirklichkeit wird anders wahrgenommen – und auch das Selbstbild ist gestört. Im Gegensatz zur Neurose wird bei einer Psychose die eigene Erkrankung als solche nicht bemerkt. Ein weiteres Kennzeichen für neurotische Erkrankungen ist, dass sich die Störungen – anders als bei einer Psychose – noch innerhalb sozial akzeptierter Grenzen äußern. Die charakteristische Persönlichkeit bleibt erhalten und wird von der Neurose nicht beeinflusst. Symptome einer Neurose können eine ängstliche Grundeinstellung, Unsicherheit, Gehemmtheit und leichte Verstimmbarkeit sein. Oft fallen neurotische Personen auch durch aggressives Verhalten oder eine krankhafte Überangepasstheit auf. Zwänge und Phobien, Essstörungen oder Stottern können ebenfalls auf eine Neurose hindeuten.

Den Betroffenen bringt aber die Frage der korrekten psychologischen Definition – Neurose oder Psychose – letztlich nicht weiter. Er oder sie fragt nach Hilfe in einer Situation, die als belastend empfunden wird. Jede Neurose und jede Psychose hat ihre Ursachen. Um diese zu erkennen, setzen Diagnosen über psychische Störungen die Bereitschaft der betroffenen Menschen voraus, über ihre Phobien, über seelische Zustände und Gefühle offen zu reden. Die Heilung von neurotischen Erkrankungen erfordert vor allem Zeit und Geduld – denn schließlich hat sich auch die Neurose nicht über Nacht ausgebildet.

Was Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, schon vor über 100 Jahren bemerkte, gilt auch heute noch: Zwischen Normalität und Neurose gibt es fließende Übergänge. Was für den einen eine Neurose darstellt, ist für den anderen ein sympathischer oder zumindest interessanter Aspekt einer außergewöhnlichen Persönlichkeit.

Ist die Psychose ein überholter Begriff?

In der heutigen Psychotherapie wird mit dem Begriff Neurose (engl. neurosis) kaum noch gearbeitet. Das Wort ist allerdings ein fester Bestandteil des allgemeinen Sprachgebrauchs (Neurose, Neurotiker, neurotisch usw.) und in jedem Lexikon zu finden.

In der modernen Psychologie werden differenziertere Begriffe verwendet, mit denen versucht wird, genauere Diagnosen von psychischen Erkrankungen zu stellen. Diese orientieren sich zumeist an den Symptomen der neurotischen Störungen. Die Psychologie vermeidet den Begriff der Neurose auch deshalb, weil dieser die Deutungen der Psychoanalyse impliziert – Deutungen, die in der modernen Wissenschaft von psychischen Erkrankungen teilweise nicht mehr anerkannt werden. Und so ist „Neurose“ auch nicht mehr im aktuellen Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen enthalten. Gleichwohl wird auch unter Psychologen von Neurosen gesprochen, um den Unterschied zu den Psychosen klarzustellen: Die Störung des Ich-Bezugs und des Realitätsempfindens ist bei der Neurose nicht so stark. Es liegt eine seelische Verstimmtheit vor, die sich in einer unerklärlichen Anspannung, in Phobien oder einer ähnlichen Störung zeigt. Jedoch ist der Bezug der Person zur Wirklichkeit noch intakt, was mögliche Therapien deutlich erleichtert. Auch Angebote für Lebenshilfe bieten ausdrücklich Behandlung bei Neurosen an – und arbeiten dabei eng mit Psychologen zusammen.

Das Unterbewusstsein setzt Ursachen für Neurosen

Bei der Neurose spielt (wie auch bei der Psychose) das Unterbewusstsein die entscheidende Rolle. Dies ist eine der bahnbrechenden Erkenntnisse von Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse sozusagen das Unbewusste ans Tageslicht brachte. Eine Persönlichkeitsstörung hat ihre Ursache meist in unreflektierten Konflikten. Eine problematische Kindheit, ein nicht verarbeitetes Trauma – manchmal kann auch ein aktueller Konflikt zu einer Neurose führen, ohne dass dem Betroffenen der Grund klar ist. Es gibt keine angeborenen Neurosen oder von Natur aus neurotisch veranlagte Personen. Eine Neurose hat ebenso wie eine Psychose Gründe, die immer in der Geschichte des Einzelnen liegen. Die Persönlichkeitsstörung, die sich in neurotischen Symptomen äußert, ist eine Antwort auf unverarbeitete Erlebnisse und Konflikte.

Die Psychotherapie beruht im Wesentlichen auf Kommunikation. Im gemeinsamen Gespräch wird den Ursachen für die Neurose auf den Grund gegangen. Wichtig ist dabei immer, dass der Betroffene selbst zu einer Erkenntnis gelangen muss. Der Weg zur Einsicht muss selbst gegangen werden, jedoch sollte für diesen Weg Unterstützung in Anspruch genommen werden. Jede Neurose ist so individuell wie der Mensch selbst. Prognosen über den Verlauf einer Neurose sind daher schwer, auch, weil die unter dem Begriff der Neurose zusammengefassten Störungen sehr unterschiedlich sind. Ebenso wenig gibt es eine allgemein anerkannte Therapie der Neurosen, denn neurotische Erkrankungen sind vielschichtig.

Es gilt jedoch, wie für fast alle psychischen Erkrankungen, dass Lösungen immer über Gespräche und Kommunikation zwischen Menschen führen – besonders in einer Partnerschaft oder in der Familie. Eine Neurose kann nämlich, genau wie körperliche Krankheiten, auch für die zwischenmenschliche Beziehung eine Belastung werden. Auch der Partner leidet unter der psychischen Störung des anderen – manchmal sogar mehr als der Neurotiker selbst – was wiederum zu einer Belastungen der Partnerschaft führt.

Der Weg aus der Neurose

Wege zur Heilung existieren auch bei neurotischen Erkrankungen

Wege zur Heilung existieren auch bei neurotischen Erkrankungen

Gleichgültig, ob ein bestimmter Zustand die Definition einer Neurose erfüllt und ob der Begriff der Neurose in der Psychologie als tauglich für die Diagnose angesehen wird oder nicht, die Symptome einer seelischen Störung sind meist gut klassifizierbar: Angststörungen (Angstneurose), Zwangsstörungen, Überreaktionen, ein geringes Selbstwertgefühl, Gefühle der Entfremdung, Verstimmungen und das allgemeine Gefühl einer diffusen Angst.

Was können Sie gegen eine (vermutete) Neurose tun? Wenn Sie sich diese Frage stellen, haben Sie bereits den ersten Schritt getan. Es kommt nicht auf die terminologisch korrekte Diagnose an, sondern auf die Einsicht. Denn die erste Hürde, die Sie überwinden müssen, ist die Angst vor der Selbsterkenntnis. Der Weg zur psychischen Gesundheit kann nur über das Verstehen führen. Dies gilt sowohl für neurotische Erkrankungen als auch für Psychosen. Natürlich gibt es im Leben eines jeden Menschen Phasen, die durch Melancholie, Traurigkeit oder ein vorübergehend geringeres Selbstwertgefühl gekennzeichnet sind – und nicht immer handelt es sich dabei um eine ernstzunehmende psychische Störung, die mit einer Psychotherapie behandelt werden muss. Es können vorübergehende Phasen in der Geschichte der Persönlichkeitsentwicklung sein, die im Nachhinein oft als wertvolle Erfahrung bewertet werden, an denen man gewachsen ist.

Wenn sich jedoch extrem belastende Angststörungen oder schizoide Persönlichkeitsstörungen zeigen, die auf eine Neurose oder Psychose hindeuten, sollten Sie psychologische oder seelsorgerische Hilfe in Anspruch nehmen. Seelsorger sind darin geschult, Symptome von Persönlichkeitsstörung zu erkennen, die behandelt werden sollten. Sie wissen, an welchem Punkt ein seelsorgerisches Gespräch allein nicht mehr ausreicht und zumindest Unterstützung von psychologischer Seite in Anspruch genommen werden muss. Manchmal steckt hinter einer vermeintlichen Neurose oder Psychose aber auch ein objektiver Konflikt, dessen Bewältigung am besten in einem seelsorgerischen Gespräch erfolgen kann. Verantwortungsvolle Seelsorge muss aber immer so erfolgen, dass die Grenze zwischen Beistand in einer schwierigen Situation und behandlungsbedürftiger Persönlichkeitsstörung klar zu erkennen ist. Professionelle Seelsorge kann eine Psychotherapie aber durchaus sinnvoll unterstützen.